H. Fischer-Tiné (Hg.), Anxieties, Fear and Panic in Colonial Settings

Cover
Titel
Anxieties, Fear and Panic in Colonial Settings. Empires on the Verge of a Nervous Breakdown


Herausgeber
Fischer-Tiné, Harald
Reihe
Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series
Erschienen
Cham 2016: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
404 S.
von
Andreas Stucki, Historisches Institut, Universität Bern

Imperien und Emotionen haben Konjunktur. Der affective turn hat sich im Bereich der Kolonialgeschichte sowie der postkolonialen Studien als ausserordentlich fruchtbar erwiesen. Die «koloniale Situation» (Balandier) kennzeichnete sich nicht zuletzt durch Ängste, Scham, Befürchtungen und Panik. Auf ebendiese (negativen) Emotionen und ihre Auswirkungen im kolonialen Kontext fokussieren die Aufsätze des von Harald Fischer-Tiné herausgegebenen Sammelbandes.

In ihrer Einleitung erörtern Fischer-Tiné und Christine Whyte gekonnt das Unbehagen sowie die Verletzlichkeit, die eine fragile «weisse» Gesellschaft in der kolonialen Welt oftmals auf Schritt und Tritt begleiteten. Eine Reihe performativer Akte – bisweilen nackte physische Gewalt – sollten negative Emotionen bändigen und zur Selbstvergewisserung beitragen. Die Einleitung bietet einen überzeugenden Überblick zum wissenschaftlichen Umgang mit «Emotionen» als analytische Kategorie sowie eine vertiefte Untersuchung des Phänomens der «Panik» im kolonialen Setting.

Der Band gliedert sich in vier Teile mit jeweils drei bis vier Aufsätzen. Teil eins ist überschrieben mit «The Health of Body and Mind», der zweite mit «Imperial Panics and Discursive Responses». Darauf folgen jene unter den Titeln «Practical and Institutional Counter-measures» sowie «‹Knowledge› and ‹Ignorance›». Bereits die Überschriften der thematischen Blöcke verdeutlichen den breiten Zugang und die Schlüsselthemen, welche die dreizehn Aufsätze bearbeiten. Die Tiefenschärfe der Beiträge ist beeindruckend, zumal mehrere vergleichend angelegt sind. Im Zentrum stehen Emotionen und deren Auswirkungen im Britischen Empire, im deutschen sowie im niederländischen Kolonialreich von 1860 bis 1960. Die Artikel stützen sich auf eine faszinierend breite Quellenbasis. Neben Akten aus «metropolitanen» Archiven beziehen die Autorinnen und Autoren auch Bestände in Delhi, Pretoria, Freetown (Sierra Leone) sowie Basel mit ein. An dieser Stelle ist es nicht möglich, alle Essays umfassend zu würdigen, obwohl sie sich durchgehend analytisch wie auch sprachlich auf hohem Niveau bewegen. In der folgenden Skizze beschränke ich mich daher auf ausgewählte Beiträge, welche imperiale Furcht und Panik aus unterschiedlichen Perspektiven herausarbeiten und aufzeigen, wie Emotionen die koloniale Situation prägten.

Dane Kennedys Beitrag «Minds in Crisis» bildet den Auftakt zum ersten Teil des Buches. Kennedy bringt zwei miteinander verflochtene medizinisch-moralische Theorien in den Dialog. Die eine suchte negative Einflüsse der «Tropen» auf (vorwiegend) «weisse » Männer zu verdeutlichen. Die andere zielte auf die «Kolonisierten» und hob auf deren vorgeblichen Hang zur Panik ab. Während Europäer mit Neurosen wie Schlaflosigkeit oder Angstzuständen zu kämpfen hatten, wurden die Symptome bei indigenen Gruppen als Psychosen – Schizophrenie, Hysterie – gedeutet. Medizinische Diskurse um 1900 in Europa und den USA beeinflussten die Pathologisierung kolonialer Gesellschaften, mitunter ganzer Imperien. Mit Blick auf autochthone Gruppen ging es darum, deren individuellen und kollektiven Akte der Gewalt gegen die Kolonialmacht zu erklären. Aus Sicht der «Experten» waren diese nicht auf Unterdrückung seitens der Imperialmacht zurückzuführen, sondern auf den angeblich «primitiven» und «irrationalen» Charakter der lokalen Bevölkerungen. Deren vorgebliche «Manie» hing dementsprechend mit der fortschreitenden «Modernisierung» in den Kolonien zusammen, welche sie überfordere und sich in irrationaler Gewalt entlade. Die Umdeutung politischer und sozialer Probleme in den Kolonien zu psychiatrischen Pathologien diente zur Erklärung antikolonialer Aufstände. «Medizinische» Argumente trugen so zur Normalisierung und Legitimierung der kolonialen Situation bei.

Hinsichtlich der sogenannten tropischen Neurasthenie, die in der Vorstellungswelt der Ärzte vorwiegend Europäer in den Kolonien betraf, macht Kennedy deutlich, dass ich dieses Krankheitsbild nicht auf mikrobiologische Argumente stützte, welche die im Entstehen begriffene Tropenmedizin informierten. Zur Erklärung der tropischen Neurasthenie griffen die Mediziner auf ältere Traditionen zurück, welche Umwelt und Klima – etwa Miasmen – als Krankheitserreger identifizierten. Die Umwelt in den Kolonien schwächte dementsprechend die «Weissen» und führte zu Erschöpfung und Nervenschwäche, was im Grossen und Ganzen auf einen Mangel an «Modernität» zurückgeführt wurde. Das «primitive» Umfeld gefährdete den «zivilisierten» Menschen und hatte eine Reihe von Symptomen zur Folge, die auch das Prestige der Kolonialmacht schwächten. Das Syndrom der tropischen Neurasthenie gefährdete nicht nur den Patienten, sondern das koloniale Projekt, welches je nach Betrachter am Rande des Nervenzusammenbruchs stand.

Gajendra Singhs Aufsatz im zweiten Teil des Bandes fokussiert weniger auf die Ängste in den Kolonien, sondern auf die Panik, die (mögliche) sexuelle Kontakte indischer Soldaten mit Europäerinnen während des Ersten Weltkriegs in Europa verursachten. Über die Akten der Zensurbehörden rekonstruiert Singh sorgfältig die tatsächlichen und imaginierten Liaisons, über welche die Sepoys in britischen Diensten in ihren Briefen berichteten. Inter-ethnischer Sex schien die kolonialen Hierarchien, «das Prestige und den Spirit europäischer Herrschaft» ebenso zu gefährden, wie revolutionäres Schriftgut. Harsche Überwachung, Disziplinierung und radikale Einschränkungen der Bewegungsfreiräume indischer Soldaten sollten diese Gefahren bändigen.

Ähnlich wie in den Kolonien galt es daher «weisse» Frauen zu «schützen». In den meisten britischen Spitälern war es Krankenschwestern untersagt, indische Kriegsverletzte zu pflegen. Im Kitchener Indian Hospital in Brighton war die Lage besonders prekär; zeitgenössische Beobachter verglichen das Dasein der Inder mit jenem von politischen Gefangenen in Strafkolonien. Als im Spital gar Stacheldraht und britische Militärpolizei zum Einsatz kamen, reichten manchen Petitionen für besserer Behandlung nicht mehr aus. Sub-Assistant Surgeon Jagu Godbole scheiterte bei einem Anschlag auf den britischen Oberst im Spital, was ihm sieben Jahre Gefängnis einbrachte. Trotz Überwachung und Segregation verjubelte manch indischer Soldat seinen Sold im Bordell. Andere, die in Frankreich gedient hatten, träumten davon, ihre «Mademoiselle» möglichst bald nach Indien zu bringen. In Europa liess sich weder der Kontakt von Sepoys mit revolutionärer Literatur unterbinden noch jener mit europäischen Frauen.

Den Abschluss des Sammelbandes bildet Robert Peckhams Essay zu Pandemie und Panik in Hong Kong und Bombay, der sich in Zeiten von Covid-19 mit besonderem Gewinn liest. Peckham nimmt die Ängste während der Dritten Pest-Pandemie in den Blick, der Ende des 19. Jahrhunderts weltweit rund fünfzehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Hong Kong, damals eine Stadt mit über 220’000 Einwohnern, forderte die Seuche 1894 rund 2’500 Tote. In Bombay, das eine Bevölkerung von 850’000 Personen zählte, waren es zwischen 1896 und 1899 44’000 Tote – im Grossraum der Metropole gar über 250’000. Peckham identifiziert in einem ersten Schritt das zirkuläre Argument der angeblich asiatischen Veranlagung zur gedrängten Menschenansammlung: Menschenmassen und unhygienische Verhältnisse sahen koloniale Mediziner und Verwalter als Nährboden für Seuchen; Seuchen heizten ihrerseits die indigenen Massen an, was wiederum zu «infektiöser Panik» führte, so die Überzeugung. «Panik und Flucht» wurden so zu Begleitsymptomen der Infektion. Dabei galt die Panik als ebenso ansteckend wie die Mikroben. Der medizinische Jargon und das Konstrukt der Panik dienten auch hier dazu, indigenen Kollektiven die Legitimation ihrer politischen Aktionen abzusprechen.

Der medizinische Diskurs in den Kolonien war zur Jahrhundertwende eng mit der Humangeografie Europas verknüpft. Im Zentrum stand die «Lesbarkeit» – die Kontrolle – der (kolonialen) Bevölkerung. Dies drückte sich im Erstellen von Zensus, Stadtplänen, Public Health-Berichten sowie der Berechnung der Bevölkerungsdichte aus. Das Bild der angeblich asiatischen Vorliebe zur Masse, zum «overcrowding», schien sich wieder zu bestätigen: während London in den 1890ern 222 Personen pro Hektar zählte, waren es in Bombay 760. Gemäss indischen Zensus (1901) wies Bombay weltweit die höchste Bevölkerungsdichte aus. Das «Gewimmel» galt auch als Ursache für Proteste und Unruhen.

Hong Kong wies zwar nicht «Massen» Bombays auf, brachte jedoch mit den chinesischen Arbeitern in der Stadt und den chinesischen Provinzen im Hinterland ähnliche Ängste hervor. «In China breathing seems to be optional», zitierte der britische Zensus von 1891 ein Werk zu Chinese Characteristics. «[O]vercrowding is the normal condition of the Chinese», hiess es weiter. Chinesische Wanderarbeiter wurden zu «Schwärmen», zu unkontrollierbaren Massen, die tödliche Krankheiten wie die Pest verbreiten. Seuchen galten als Ausdruck eines ungesunden Klimas wie auch als typisch für die chinesischen «Massen» und ihrer Lebensweise. Die panischen «Schwärme» würden dann zur weiteren Verbreitung der Seuchen beitragen, womit sich Infektionskrankheiten wie die Pest oder Cholera als asiatischen Ursprungs konstruieren liessen – was dann wiederum umfassende Präventionsmassnahmen legitimierte: Einschränkungen der Bewegungs- sowie der Versammlungsfreiheit. Hausbesuche der britischen Seuchenkontrolle potenzierten Ängste unter der lokalen Bevölkerung, was abermals die Panik der Kolonialmacht vor den unkontrollierbaren indigenen «Massen» befeuerte.

In Zeiten der Pandemie liessen sich Aufruhr, Unruhen sowie Streiks in Hong und Bombay auf angebliche «Ignoranz» und «Dummheit» der lokalen Bevölkerung zurückführen. Trotzdem: Die Pest vermochte im ausgehenden 19. Jahrhundert das Britische Empire in seinen Grundfesten zu erschüttern. Knotenpunkte wie Hong Kong, bislang als Lebensadern des Imperiums wahrgenommen, verbreiteten nun Krankheit und Panik. Reisebeschränkungen und Isolation sollten die negativen ökonomischen Auswirkungen inGrenzen halten.

Im Grossen und Ganzen liest sich der Sammelband wie ein überzeugendes Plädoyer, (negativen) Emotionen – Ängste, Panik, Ehrvorstellungen – im imperialen Kontext jenen zentralen Platz einzuräumen, der ihnen für die Analyse kolonialer Situationen zusteht. Die einzelnen Aufsätze bieten Inspiration, um sich mit diesem Fokus auch der Geschichte weiterer Imperien anzunähern.

Zitierweise:
Stucki, Andreas: Rezension zu: Fischer-Tiné, Harald (Hg.): Anxieties, Fear and Panic in Colonial Settings. Empires on the Verge of a Nervous Breakdown, Cham 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 525-528. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.